Freitag, 29. Juli 2016

Aus Hermann Hesse "Die Gedichte"

Stufen


Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andere, neue Bindungen zu geben. 
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, 
Der uns beschützt, und der uns hilft zu leben. 
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, 
An keinem, wie an einer Heimat hängen. 
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten. 

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen. 
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Karl Hesse war Schriftsteller, Dichter und Maler.
1946 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen.
Er verstarb am 9. August 1962.   

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